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Sieben Thesen zur Lage
Nach den Terroranschlägen in den USA

von Christoph Spehr, 13.09.2001




 
 
 
 

 



1. Das ist kein Krieg.

Auch wenn die Dimension der Terroranschläge schockierend ist: Das ist kein Krieg. Bis jetzt noch nicht. Kriege sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Staaten oder Bürgerkriegsparteien in einem Land; Krieg erfordert einen bekannten Gegner, dessen militärische Struktur angegriffen werden kann. Das Etikett "Krieg" lenkt ab von der Fragwürdigkeit von blinden Vergeltungsschlägen, die vorwiegend aus symbolischen und innenpolitischen Gründen forciert werden. Es sei daran erinnert, dass z.B. die "Ziele" im Sudan, die 1998 von den USA bombardiert wurden, sich nachträglich als "Irrtum" herausstellten. Terror wird durch Gegenterror nicht bekämpft, und er rechtfertigt ihn nicht.

2. Es kommt jetzt alles darauf an, keinen Krieg daraus zu machen.

Die Rhetorik vom Krieg und die Politik des Gegenschlags spielt in leichtfertiger Weise mit der Gefahr eines tatsächlichen Krieges, vor allem eines Krieges zwischen dem Westen und arabischen Ländern. Zweifellos geht Terror in der Welt auch vom Boden der USA und Europas aus; dass eine Bombardierung entsprechender "Zentren" nicht verständnisvoll hingenommen werden kann, erleben wir gerade. Dasselbe gilt für Länder in Asien, Afrika oder Nahost aber auch. Aktuell ist es der Westen, der einen Angriffskrieg gegen arabische Staaten vorbereitet, der bereits als Krieg des Guten gegen das Böse abgefeiert wird. Die Geschwindigkeit, mit der angebliche "Erkenntnisse" produziert werden, ist mehr als fragwürdig. Die Leichtfertigkeit, mit der das Risiko eines tatsächlichen Krieges in Kauf genommen wird, ist ebenso schockierend wie das Desinteresse an den Menschen, deren Leben direkt und indirekt gefährdet wird.

3. Das ist kein Anschlag gegen die Freiheit, nicht einmal gegen den Kapitalismus, und es läßt sich auch keiner draus machen.

Mit den verheerenden Anschlägen ist weder die "freie Welt", sprich der Westen, noch die "zivilisierte Welt", sprich die Industriestaaten, auch nicht die "Demokratie", sprich der Kapitalismus angegriffen worden. Abgesehen davon, dass man bis jetzt nicht weiß, wer die Anschläge mit welchem Ziel durchgeführt hat, richten sie sich gegen Symbole der USA als weltweiter Interventionsmacht, ökonomisch und militärisch. Das ist eine relativ spezielle Botschaft. Die Rede vom "Angriff auf die Freiheit" bäckt dieses spezifische Gewaltpotenzial mit allem und allen in der Gesellschaft zusammen und verdeckt gezielt, dass eben diese Interventionsmacht und -praxis seit langem bewusst und kalkuliert Risiken auch für die eigene Bevölkerung anzieht - vor allem indem sie anderswo Gewalt ausübt und Armut schafft, aber auch indem sie bedenkenlos Gruppen militärisch aufrüstet, über die sie dann die Kontrolle verliert.

4. Das ist kein Anschlag für die Freiheit, nicht einmal gegen den Kapitalismus, und es läßt sich auch keiner draus machen.

Man muss keine Sympathie für das Pentagon oder für das internationale Finanzkapital hegen, um festzustellen, dass die Anschläge eine faschistische Handschrift tragen. Ähnlich wie bei den Anschlägen in Bologna, Oklahoma und anderen sollten mit maximaler Gewalt möglichst viele Menschen getötet werden, Chaos und Krieg sind die kalkulierten, erhofften Folgen dabei. Der Tod von Zivilisten, die unmittelbare Lebensgefahr die für Palästinenser, für Israelis, für die Bevölkerung arabischer Staaten und viele andere hervorgerufen wird, sind den Tätern vollständig gleichgültig. Egal ob die Verantwortlichen arabische Fundamentalisten, amerikanische Rechtsextreme, eine Verbindung mehrerer Gruppen oder ganz Andere waren: hier läßt sich kein antikapitalistischer Kontext konstruieren, hier rechnet ein reaktionäres, organisiertes Machtpotential mit einem Gegner ab, der der eigenen Macht im Weg steht; hier wird geschlachtet, weil man sich von den Folgen eine Eskalation verspricht, von der das eigene Machtgebilde auf Kosten zahlloser Anderer profitieren soll.

5. Die Anschläge sind der Bankrott einer militärisch und polizeilich fixierten Sicherheitspolitik; ein Weitergehen in diese Richtung ist verantwortungsloser Hasard.

Die Rede vom Krieg verdeckt auch, dass es vor Terroranschlägen keinen absoluten Schutz gibt. Die eigene Sicherheit zu erhöhen, erfordert Politik, nicht militärische Schlagkraft. Es erfordert eine Politik, die zumindest in höherem Maße auf Kooperation, Ausgleich und Kompromiss bedacht ist, wenn es um ökonomische Politik und internationale Konflikte geht. Auch wenn die Terroranschläge nicht beanspruchen können, irgendjemand zu "repräsentieren", haben sie einen verbreiteten realen Hass auf den Westen und die USA zur Voraussetzung, um ihre Söldner zu rekrutieren und sich erfolgreich vor Infiltration abzuschotten. Diesen Hass kann man militärisch nicht zerschlagen, er ist die Bilanz einer Politik, die weiten Teilen der Menschheit nichts zu bieten hat - nicht die Ambivalenz eines noch halbwegs auskömmlichen Lebens im Kapitalismus, sondern buchstäblich nichts außer Gewalt, Armut, Vertreibung und Demütigung. Sicherheitspolitik besteht heute im Protest gegen die Politik der G8. Wer findet, am wichtigsten sei, dass die Bundeswehr jetzt auch möglichst schnell ihre globale Interventionsfähigkeit weiter vorantreibt, ist nicht nur zynisch, er riskiert bereitwillig unser aller Leben um der Interessen von Eliten und "Systemzwängen" willen.

6. Es ist notwendig deutlich zu machen, dass wir uns weigern, einen Krieg zu führen.

Die an sich bekannte Wahrheit, dass Krieg das Schlimmste ist, was passieren kann, wird derzeit beschleunigt zugedeckt. Wir erleben kriegsvorbereitende Propaganda. Es ist wichtig, klar zu machen, dass ein Krieg auf Widerstand stößt. Anteilnahme und Solidarität für die Getöteten in Amerika und ihre Angehörigen sind wichtig. Für die innenpolitischen Interessen von Bush und die strategischen Machtinteressen deutscher Eliten im Nahen Osten den Kopf hinhalten, hat damit nichts zu tun.

7. Es ist notwendig, einer Spirale von Rassismus entgegenzutreten.

Es gibt bereits Angriffe auf Ausländer, speziell auf Menschen aus arabischen Ländern oder aus mehrheitlich moslemischen Ländern, in den USA und auch hier. Das Spiel von oben ist dasselbe wie immer: Man will solche Übergriffe nicht haben, betreibt aber die Politik, die sie vorbereitet. Es geht eben nicht darum, dass "nicht alle Araber so sind" oder der Islam auch ganz nett sein kann. Es geht um aktiven Schutz für Gefährdete, es geht um eine selbstkritische Haltung gegenüber der eigenen Politik und Dominanz. Es geht um das Anerkennen der Tatsache, dass es auch Hass gibt und dass er auch reale Gründe hat. Es geht um das Eingeständnis der Tatsache, dass der Westen jeder emanzipatorischen oder sozialen Alternative innerhalb des Islam oder innerhalb der arabischen Gesellschaften mit kompromißloser Härte entgegengetreten ist, einfach wegen des Öls. Und es geht darum, mit der realen Vielgestaltigkeit von Positionen, politischen Überzeugungen und sozialen Kräften endlich zu kooperieren, zu kommunizieren und zu verhandeln, anstatt sich die Feindbilder zu schaffen, die das eigene Draufhauen immer wieder aufs Neue legitimieren sollen.


Anmerkungen

Zum Autor:
Dr. Christoph Spehr ist Mitglied im Beirat der Rosa-Luxemburg-Initiative



| updated 2001-09-15 | Rubrik: archiv.luxemburg-initiative.de |