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1. Für eine sofortige Einstellung des westlichen Angriffskrieges in Afghanistan
Die USA führen derzeit einen Angriffskrieg gegen Afghanistan, möglicherweise bereiten sie auch einen Angriffskrieg gegen weitere Länder vor. Sie tun dies mit Zustimmung der NATO und der G8-Staaten im Rahmen der üblichen imperialistischen Arbeitsteilung; dass die europäischen Regierungen einen Stil des "nachdenklich Bombardieren" bevorzugen, heißt nicht, dass es hier irgendwelche Differenzen gäbe. Dieser Angriffskrieg ist ein verbrecherischer Akt, und er liegt mitnichten im Interesse der westlichen Bevölkerungen.
Das Entsetzen über die Anschläge des 11. September kann nichts daran ändern, dass Terror weder mit Gegenterror noch mit Krieg zu beantworten ist. Die Rhetorik, die Anschläge seien eine Kriegserklärung gewesen, soll gezielt von der Fragwürdigkeit von Vergeltungsschlägen ablenken. Es gibt bislang kein Verfahren, keine der Öffentlichkeit vorgelegten Beweise, keinen darauf gestützten Auslieferungsantrag; dass die Taliban-Regierung Osama bin Laden nicht in vorauseilendem Gehorsam "einfach so" ausgeliefert hat, gilt als ausreichender Grund für einen Krieg gegen Afghanistan. Dass die militärischen Aktionen der Ergreifung Bin Ladens gelten sollten, ist seit den immer massiveren Bombardements als Lüge offensichtlich: Kriegsziel ist das Auswechseln der afghanischen Regierung.
Die Opferzahlen des westlichen Angriffskrieges werden die Zahl der Toten in New York und Washington um ein Vielfaches überschreiten. Der Krieg tötet nicht nur die, die von Bomben getroffen werden; er tötet auch die, die seit dem Truppenaufmarsch vor ihm zu fliehen versuchen und an Hunger und Kälte sterben werden. Der Zynismus der Nahrungsmittelpakete, die mit Grüßen vom amerikanischen Volk hinterhergeworfen werden, wird sie nicht retten.
2. Gegen die Mystifizierung der Anschläge
Die Anschläge vom 11.September sind keine Anschläge auf "die Zivilisation". Es sind auch keine Proteste gegen Armut und Kapitalismus. Es sind Verbrechen, politisch motivierte Anschläge, und Massaker als Teil einer machtpolitischen Strategie. Wenn sie tatsächlich von radikal-islamistischen Terrororganisationen im Umkreis von El-Quaida und Bin Laden verübt sind, haben sie einen ziemlich konkreten Hintergrund. Zum einen sind es Racheakte für den erneuten Bündniswechsel des Westens in Afghanistan, nämlich von den Taliban zur Nordallianz, an die in jüngster Zeit große Waffenlieferungen vorbereitet wurden und deren militärischer Führer, Massud, im April auf Einladung des Europa-Parlaments zu strategischen Gesprächen mit Solanas u.a. zusammentraf, bevor er zeitgleich mit den Anschlägen von einem Selbstmordkommando ermordet wurde. Zum anderen reihen sich die Anschläge in eine Serie von Mordanschlägen seit 1993, die gegen Angehörige des US-Militärs, der US-Geheimdienste und anderer Einrichtungen in arabischen Ländern verübt wurden und die Ziele verfolgen sollen, die von Bin Laden und anderen Terror-Organisatoren immer wieder genannt wurden: Abzug amerikanischer Truppen aus allen arabischen Ländern; Ende des militärischen und ökonomischen Krieges gegen den Irak; Entzug der westlichen Unterstützung für "gefügige" Satelliten-Regime wie Saudi-Arabien.
Diese Ziele (nicht die Anschläge!) finden in der Bevölkerung der arabischen Länder weite Zustimmung, und sie sind berechtigt. Das Problem ist, dass der militärisch-ökonomische Komplex des islamistischen Terrors sich diese, an sich schwer abweisbaren, Ziele zu eigen macht, um sein eigenes Süppchen darauf zu kochen. Er behauptet, dass diese Ziele nur durch ihn zu erreichen sind; dass sie nur mit seinen faschistischen Mitteln erreichbar sind; und dass sie nur zusammen mit einigen anderen Zielen erreichbar sind, die man ebenfalls als faschistisch bezeichnen muss: der Errichtung fundamentalistischer "Gottesstaaten" a la Taliban, der Vernichtung Israels, der totalen Allmacht der islamistischen religiösen und militärischen Führer.
Die Mystifizierung der Anschläge verdeckt, dass die westlichen Regierungen keine Antwort auf dieses Problem haben; ja dass sie es auch gar nicht lösen wollen, weil sie mit dem Terror auch alle legitimen arabischen Ansprüche bekämpfen möchten, die dem westlichen imperialen Anspruch zuwiderlaufen. Die Mystifizierung verdeckt, dass der sunnitische Fundamentalismus, Osama bin Laden und die Taliban vom Westen gezielt aufgebaut, finanziert und aufgerüstet wurden, im Rahmen der größten CIA-Aktion seit dem Zweiten Weltkrieg; zunächst um die Sowjetunion zu bekämpfen, später um in Ungnade gefallene Protegés durch andere Kräfte zu ersetzen. Und sie verdeckt auch, dass der Westen andere Versuche in der arabischen Region, Souveränität und reale Selbstbestimmung zu erlangen, konsequent zerstört hat oder ausbluten ließ.
3. Die Politik des Westens: wie von Bin Laden bestellt
Was ist nun die aktuelle Politik des Westens gegenüber diesem Problem? Sie wirkt, als hätten Bin Laden und die anderen Exponenten islamistischer Terrororganisationen persönlich sie bestellt: Die USA stellen sich auf eine mindestens 10jährige massive Truppenpräsenz ein, im Prinzip sollen amerikanische Truppen für immer auf dem Boden arabischer Länder stationiert bleiben. Der Westen stützt fragwürdigste Regime mit politischen, ökonomischen und militärischen Geschenken, sofern sie nur an der Kriegs-Koalition teilnehmen; Menschenrechte spielen dabei keine Rolle. Die Einbeziehung des Irak als Ziel militärischer Operationen ist sehr wahrscheinlich, ein Ende des Embargo ist in weite Ferne gerückt. Mit der Aufrüstung der Nordallianz greift der Westen zum dritten Mal massiv in den afghanischen Bürgerkrieg ein, und er wird auch die Nordallianz fallen lassen, sobald sie Kritik an der westlichen Politik und an den westlichen Bomben übt. All dies ist Wasser auf die Mühlen des Terrors.
4. Genua hoch zehn
Entzivilisierung und Entdemokratisierung schreiten dabei auch im Westen selbst voran. Nach dem Willen der US-Regierung sollen bei der totalen Operation "Terrorbekämpfung" alle Trennungen zwischen Militär, Polizei, Geheimdiensten und ökonomischer Politik aufgehoben werden. Der umfassende, totale Krieg gegen unbotmäßige Länder, der so zur realen Drohung wird, benutzt die UNO nicht einmal mehr als Feigenblatt: keine internationale Instanz wird die "Beweise" gegen Afghanistan auch nur zu Gesicht bekommen haben, bevor die USA angreifen. Der proklamierte 10-Jahres-Plan, der militärische, ökonomische und politische Interventionen umfassen soll und damit den Charakter einer autoritären Weltinnenpolitik hat, wird im Kreis von Kriegskabinetten verhandelt, eine Gruppe von vielleicht zwanzig Menschen weltweit entscheidet über die Ausrichtung der Weltpolitik der nächsten 10 Jahre. Die bisherige Anmassung der G8-Treffen wird damit noch übertroffen. Was hier vorbereitet wird, ist Genua hoch zehn. Dazu passt auch, dass Notstandsgesetze nach innen vorbereitet werden, um Widerstand und Kritik durch totalitäre Kontrolle und Zensur zu ersticken: die Abmahnungen von LehrerInnen in Sachsen, die es wagten die US-Politik zu kritisieren, geben einen ersten Vorgeschmack.
5. Die Dominanzkultur dreht durch
Der Westen hat durchaus ökonomische und geostrategische Interessen in Afghanistan. Es geht um das Pipeline-Projekt von Baku zum arabischen Meer, es geht generell um die Sicherung des westlichen Zugriffs aufs Öl in der ganzen Region; es geht beim "Kampf gegen den Terror" auch um die "Sicherheit" weltweit agierenden Kapitals und seiner Repräsentanten und Angestellten. Dennoch ist das ökonomische und militärstrategische Kalkül in bezug auf den jetzigen Krieg widersprüchlich und keineswegs klar, und unter der Hand auch umstritten.
Dagegen ist seit langem keine militärische Operation so stark von den Bedürfnissen patriarchaler Dominanzkultur geprägt gewesen, und zwar auf beiden Seiten: der phallische Charakter des Anschlagsziels vom 11.September kommt nicht von ungefähr. Das Vorgehen der USA ist geprägt von der Panik vor Kontrollverlust. Mehr als alles andere geht es um die Illusion, "das Heft wieder in der Hand zu haben": "the conflict, begun on the timing and terms of others, will end in a way, and at an hour, of our choosing" (Bush). Es geht um die Unvorstellbarkeit, selbst Opfer zu sein, die jetzt militärisch ausradiert werden soll. Die patriarchale Dominanzkultur der Gegenseite funktioniert anders; sie drückt sich aus in der Rechtfertigung der Massaker als Gebot der Ehre, als Wiederherstellung gekränkter männlicher Identität, und in der wegwerfenden Geringschätzung des eigenen Lebens (ebenso wie des Lebens "zufällig Betroffener"). Es ist eine innerpatriarchale Konstellation, die von klassischen Frontstellungen wie Kolonisator/Kolonisierter, hegemoniale/marginalisierte Männlichkeit usw. durchzogen ist.
Das Drama ist, dass jedes rationale Interesse, das Leben eigener Bevölkerungen zu schützen, Gefahren abzuwenden, und Verbrechen gegen andere Bevölkerungen zu vermeiden, dabei vollständig unter die Räder kommt. Jede weitere Runde von Terroranschlägen, Bombardements, neuen Terroranschlägen, neuen Bombardements wird diesen Wahnsinn weiter nähren, der seine KritikerInnen als "Weicheier" beiseiteschiebt. An genau diesem Punkt hat Wickert Recht, dass die Logik auf beiden Seiten dieselbe ist. Und es ist auf beiden Seiten ein guter Job, Mullah zu sein - sprich, zu denen zu gehören, deren Position immer besser und deren Handlungsspielräume immer größer werden, je weiter die Gewaltspirale sich dreht, und je mehr Opfer sie kostet.
6. Neue Weltordnung II: Schnäppchenmarkt für Zyniker
Im Zuge der "internationalen Koalition gegen den Terror" werden derzeit Verhandlungen geführt, die weit über den Krieg gegen Afghanistan hinausgehen und einige wesentliche Konkretisierungen und Veränderungen der nach 1989 proklamierten "Neuen Weltordnung" zum Gegenstand haben. Jenseits aller noch halbwegs legitimierten internationalen Organe und ohne jede Beteiligung der Bevölkerungen ist hier ein wilder Schnäppchenmarkt für Zyniker aller Couleur entstanden. Die USA haben unverhohlen erklärt, die "new benchmark" (Powell), d.h. der Maßstab für die Politik der USA gegenüber anderen Staaten, sei ausschließlich deren Unterstützung für den US-Krieg gegen Afghanistan und alle weiteren Maßnahmen in diesem Zusammenhang. Die Regierungen der Staaten, die an der Koalition teilnehmen, möchten sich dies umgekehrt in verschiedenster Weise bezahlen lassen. Pakistan braucht Geld; Indien möchte Zustimmung für seine Kashmir-Politik; Russland will Freispruch für seinen eigenen Staatsterror in Tschetschenien; die Liste ist lang. Auch wenn sich in der Koalition eine gewisse imperiale Überspannung der USA ausdrückt und die Notwendigkeit, an der Illusion völlig unbeschränkter nationalstaatlicher Handlungsfreiheit Korrekturen vorzunehmen, so ist von dieser Art Kuhhandel zwischen Regimen nur eine weitere Verschärfung der menschenverachtenden und autoritären Züge der aktuellen Weltordnung zu erwarten.
Auch die deutsche Regierung will in diesem Sommerschlußverkauf nicht zurückstehen. Im Gegenzug für bedingungslose Unterstützung der Militäroperationen der USA, soll wieder einmal eine deutsche "Normalisierung" durchgesetzt werden: die vollständige, offene Rückkehr zur Großmachtspolitik, die Möglichkeit selbst wieder kriegsführende Macht zu sein, die Stärkung internationalen Einflusses (Sitz im Weltsicherheitsrat usw.). Das ist gemeint, wenn Schröder die "Nachkriegszeit" für beendet erklären will.
All dies ist an Verantwortungslosigkeit kaum zu überbieten. Fremde Opfer zählen ebenso wenig, wie Risiken für die eigene Bevölkerung; Fragen von Rechtmäßigkeit und Sinn des derzeitigen Krieges geraten völlig in den Hintergrund: der Afghanistan-Krieg wird zum Medium einer Neuaushandlung dessen, wer in einem zeitgemäßen Imperialismus welche Rolle spielen darf und kann.
7. Was tun?
In diesem Krieg gibt es keine Seite des Guten; und es gibt keine wünschenswerte Tendenz, die von den Anschlägen des 11.September hervorgerufen würde, auch nicht indirekt. Beides kann nicht überraschen. In den Diskussionen um einen neuen Internationalismus ist immer wieder betont worden, dass es nicht funktioniert, sich auf eine Seite des Guten schlagen zu wollen, und dass es keinen inneren Automatismus gibt, der aus den Widersprüchen wie durch Geisterhand in eine bessere Zukunft führt. Was ist daher jetzt zu tun?
a. Den Widerstand gegen den westlichen Angriffskrieg stärken
Trotz der Beteuerungen ist die allgemeine Stimmung bislang nicht übermäßig positiv für den Krieg. Vielen ist klar, dass die Gegenschläge von heute die Selbstmordattentate von morgen sind. Viele sind schockiert, wie leichtfertig von den Regierungen weiterhin Gefahren für uns selbst in Kauf genommen werden. Viele erinnern sich auch daran, dass alle Beweise des Westens für den jugoslawischen "Hufeisenplan" sich später als Propaganda-Lüge herausstellten; oder dass die Bombardements 1998 im Sudan nachweislich zivile Ziele zerstörten. Viele können sich jetzt nicht nur besser vorstellen, was es bedeutet, in Israel zu leben, sondern sie fragen auch, ob das die richtige Perspektive für die gesamte westliche Welt ist. Es gibt viele Zugänge zu der richtigen Entscheidung, aktiv gegen den Krieg vorzugehen. Wir sollten sie nicht auf den üblichen linken Nebenschauplätzen (Stichwort Antiamerikanismus) zerreden.
b. Für eine Revision der weltweiten Interventionspolitik
Die heutige Situation ist wesentlich auch ein Ergebnis der Politik, die seit 1990 als Neue Weltordnung definiert und militärisch abgesichert wird. Auch die Bundeswehr hat in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 1991 erklärt, es gehe nicht mehr um Landesverteidigung, sondern um die Sicherung "unseres" Zugriffs auf Rohstoffe und um die weltweite Verteidigung "unserer" Interessen mit den Mitteln des Krieges. Der ökonomische und militärische Neokolonialismus beinhaltet tödliche Risiken für uns selbst. Die Alternative liegt in einer kooperativen Weltordnung, nicht in einer noch weiteren Aufrüstung.
c. Für eine Anerkennung berechtigter Ansprüche
Eine internationalistische Gegenbewegung wird sich auch dazu durchringen müssen, den arabischen Anspruch auf Selbstbestimmung und Souveränität, auf Abzug westlichen Militärs und Ende der Interventionspolitik, anzuerkennen und zu unterstützen, wenn dieser Anspruch nicht weiterhin von Fundamentalisten und Terrororganisationen ausgebeutet werden soll. Der einzige Gegenanspruch, mit dem dies verknüpft werden kann und muss, ist in diesem Fall die Anerkennung des Existenzrechts und legitimer Sicherheitsbedürfnisse Israels.
d. Für eine kooperative Weltordnung von unten
Eine internationalistische Gegenbewegung hierzulande wird ferner den Dialog mit oppositionellen und kritischen Gruppen in arabischen Ländern (und im Exil) suchen müssen, auch in Israel und Palästina, um herauszufinden, was darüber hinaus Umrisse einer kooperativen Politik sein können. Sie wird diese Politik letztlich gegen den Widerstand der politischen Eliten des Westens durchsetzen müssen (so wie andere das in ihren Ländern tun müssen). Im Moment ist von großer Bedeutung, kritische Stellungnahmen zur Logik des Krieges zu übersetzen und zugänglich zu machen (Beispiel RAWA (1)), sowie klarzumachen, dass es unabhängige und kritische Gruppen und Bewegungen auch in arabischen Ländern gibt, und was sie wollen. Es gilt ferner zu unterstreichen, dass eine akzeptierte, offene Einwanderungsgesellschaft in politischer, religiöser und Herkunfts-Pluralität, die beste Chance ist, für eine Politik internationaler Kooperation verständnis- und handlungsfähig zu werden.
Auch ein Weg, wie er hier skizziert ist, enthält Risiken und Gefahren. Auch er ist langfristig, schwierig, nicht unbedingt sofort erfolgreich. Aber es ist der einzige, den man gehen kann, wenn einem das Leben (das eigene und das Anderer) wichtiger ist als Herrschaft und Dominanz. Und es wird ihn niemand gehen, wenn nicht wir.
Anmerkungen
Aktualisierter Text zu einem Vortrag bei der Volksuni-Veranstaltung vom 05.10.2001 in Berlin.
(1) "RAWA is a political/social organization of Afghan women struggling for peace, freedom, democracy and women's rights in fundamentalism-blighted Afghanistan", zit. n. Revolutionary Association of the Women of Afghanistan, siehe auch Selbstdarstellung von RAWA (Anm. d. Webmasters)
Zum Autor:
Dr. Christoph Spehr ist Mitglied im Beirat der Rosa-Luxemburg-Initiative
| updated 2001-10-17 | Rubrik: archiv.luxemburg-initiative.de | |
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